Den innigen Wunsch, Sexualität mit sich selbst oder gemeinsam in einer (Liebes) Beziehung in vollen Zügen genießen zu können, haben wohl die meisten Menschen. Doch wie ist das mit der (sexuellen) Lust? Wird man, wenn man Glück hat, als lustvoller Mensch oder umgekehrt womöglich ohne Lustempfinden geboren? Die Antwort ist einfach und erscheint dennoch kompliziert: Für die Entwicklung einer lustvollen Sexualität braucht es viele Lernschritte auf verschiedenen Ebenen. Das Erfreuliche daran ist, dass Menschen ein Leben lang lernen und ihre sexuellen (Lust)Fähigkeiten auch im hohen Alter noch verändern können, wenn sie das möchten. In Anlehnung an das Gesundheitsmodell „Sexocorporel“ kann der sexuelle Aspekt des Menschseins als lebenslanger Lernprozess beschrieben werden und ist integraler Teil der gesamten Entwicklung.
Entgegen vieler Mythen rund um das Thema Sexualität muss jedoch eines betont werden: Sexuelle Gefühle sind für viele Menschen wichtig, erstrebenswert und schlichtweg positiv besetzt. Es gibt aber auch Menschen, für die sexuelle Erregung nicht interessant und daher auch nicht erstrebenswert ist. Sexualität ist eine Möglichkeit der lustvollen Wahrnehmung, aber kein Must-have, um gesund oder glücklich zu sein. Diese Attribute werden von so vielem beeinflusst, dass das Fehlen der sexuellen Lust nicht wesentlich ist. Sex ist also nicht unbedingt notwendig, um gesund und glücklich zu sein, kann diese Bereiche aber sehr positiv beeinflussen.
Sexualität als Lernprozess
Betrachtet man Sexualität als Lernprozess von der Geburt bis zum Tod, so ist es nicht schicksalshaft, wie viel Lust ein Mensch erleben kann. Vielmehr geht es darum, welche Fähigkeiten man in seinem bisherigen Leben auf den Ebenen der Wahrnehmung, des Körpers, der Beziehungsgestaltung und der Kognition erwerben konnte und wie diese ganz allgemeinen Kompetenzen sexuelles Wahrnehmen und Gestalten beeinflussen.
Dabei spielt der alltägliche Umgang mit dem eigenen Körper eine große Rolle. Ein Beispiel: Bei Menschen, die in ihrem Alltag ständig eine hohe Muskelspannung im Bauch- und Beckenbereich haben, wird das Zwerchfell in seiner Beweglichkeit eingeschränkt, wodurch nur noch eine sehr schnelle und flache Atmung möglich ist. Diese Art zu atmen aktiviert tendenziell den Kampf-Flucht Modus und ist somit einer genussvollen sexuellen Erregungswahrnehmung nicht sonderlich dienlich. Die Kombination aus Muskelspannung, viel Druck und wenig Atmung wird allerdings von vielen genutzt, um in der sexuellen Erregung bis zum Orgasmus zu kommen.
Die genussvolle, genitale Lustwahrnehmung wird von diesen Menschen meist als gering bis gar nicht vorhanden beschrieben. Auch in diesem Beispiel wird deutlich, dass die muskuläre Anspannung zwar förderlich für das Erleben des Orgasmus ist, durch eine sehr intensive Anspannung die Ausbreitung von Lust und Genuss allerdings verhindert wird. Gibt es eine Sehnsucht nach mehr Genuss und der Fähigkeit, die Anspannung nur dosiert einzusetzen, so hilft der Ratschlag „Entspann dich doch!“ wenig. Im Gegenteil! Die sexuelle Erregung kann nur dann ausgelöst werden, wenn alles so passiert, wie es sich die Person im Lauf der Jahre angewöhnt hat. Der Körper geht quasi in eine Erwartungshaltung. In der Sexualität plötzlich ganz anders zu tun, als man es gewohnt ist, wird meist nicht als angenehm und schon gar nicht als lustvoll erlebt.
Sich selbst lustvoll erleben
Gibt es einen Wunsch nach Veränderung, können Menschen durch Körper- und Wahrnehmungsübungen lernen, einen Einfluss auf die eigene Erregung beziehungsweise Erregungssteigerung und auf das individuelle Lustempfinden nehmen. Für diesen Prozess braucht es meist Anleitung und Begleitung – zum Beispiel im Rahmen einer Sexualberatung.
Sexuelle Lust schafft körperliche Befriedigung. Sie ermöglicht aber auch, dass sich eine Person lustvoll erleben und sich selbst im Moment sehr intensiv spüren kann. Lust zu erleben, ist folglich beinahe überlebensnotwendig. Schließlich ist es für die meisten Menschen höchst unangenehm, wenn sie sich in Situationen befinden, in denen sie sich nicht spüren können. So kann sich das Erwachen aus einer Narkose oder die lokale Betäubung bei einer Zahnbehandlung höchst unangenehm anfühlen, schließlich spürt man sich in diesem Moment nicht oder zumindest nicht im Ganzen.
Lustmomente im Alltag
Das Lusterleben ist aber nicht nur auf die Sexualität beschränkt. Es gibt auch alltägliche Tätigkeiten, die von intensiver Lustwahrnehmung geprägt sein können. Momente, wo sich der Kopf völlig ausschaltet, man ausschließlich bei sich im Hier und Jetzt ist und seinen eigenen Körper gut spürt. Lustvolles Singen, Tanzen oder Spazierengehen sind Beispiele von unzählig möglichen Lustmomenten.
Neulich wandte sich eine junge Frau Anfang 20 an mich. Sie meinte, sie hätte eigentlich so gut wie nie Lust auf Sex – weder auf Selbstbefriedigung noch auf partnerschaftliche Sexualität mit ihrem Freund. Sie verstehe gar nicht, wie man darauf Lust haben könne. Auf meine Frage, ob sie denn Momente in ihrem Alltag kennt, die sie als lustvoll erlebt, die sie sämtlichen Stress und Alltagsprobleme vergessen lassen und sie in ein intensives Körperspüren führen, schaute sie mich mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. Einer der ersten Schritte in der Beratung war es, herauszufinden, ob es nicht doch Lustmomente in ihrem Leben gibt, um diese dann im Alltag zu kultivieren und zu fördern.
Keine Frage des Alters
Lust ist natürlich nicht kognitiv beschreibbar, aber sie ist für die meisten Menschen spürbar. Das Spüren von einer genitalen sexuellen Erregung muss allerdings in gewisser Weise erlernt und kultiviert werden, denn das passiert nicht automatisch. Das Schöne ist, dass sexuelle Lust gänzlich unabhängig vom Alter und auch von eventuellen Limitierungen ist – und den Moment zum Genuss werden lassen kann. In diesem Sinne wünsche ich viele lustvolle Momente!