Sexualität ist für viele Menschen ein emotionales Thema, verbunden mit einer ganz persönlichen Kompetenz, die sich aus der eigenen Entwicklung, Erfahrungen, Gefühlen und Empfindungen, Wissen, Überzeugungen und Werthaltungen zusammensetzt. Der Wunsch, den viele Eltern und Bezugspersonen für die eigenen oder nahestehenden Kinder hegen, ist, dass sie zu selbstbewussten, eigenverantwortlichen, beziehungs- und genussfähigen Menschen heranwachsen, die wertschätzend mit sich und anderen umgehen.
Kompetente Kinder
So klar diese Zielformulierung für die meisten Erwachsenen ist, so unklar ist die gesellschaftliche Meinung darüber, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Meinen die einen, es wäre unabdingbar, Kinder von allem fernzuhalten, das als “sexuell” gelten könnte, sind andere davon überzeugt, dass die Beachtung der sexuellen Entwicklungsebene wichtig ist. Plädiert die eine Seite letztendlich für die Tabuisierung der Sexualität, ertönt als Gegengewicht der Ruf nach Sichtbarmachen sexueller Fragestellungen und Themen. Letztendlich führen beide Sichtweisen in eine Sackgasse, wenn allgemeine Faktoren der kindlichen Entwicklung nicht beachtet werden. Kindliche Entwicklung funktioniert nun mal nicht nach einem Maschinenmodell, wo bestimmte Items mit Sicherheit zu Erfolg führen. Kindliche Entwicklung ist geprägt von unterschiedlichen Möglichkeiten und Grenzen in verschiedenen Altersstufen – vor allem aber bedeutet das Wort Entwicklung die Erweiterung der Fähigkeiten von der Geburt bis zum Tod. Menschliche Entwicklung ist nie zu Ende.
Unterschiedliche Fähigkeiten als Basis
Geht man davon aus, dass Entwicklungsbegleitung die Begleitung in der Etablierung von Fähigkeiten ist, dann muss hinter jeder pädagogischen Zielsetzung die Frage stehen:
Welche Fähigkeiten brauchen Menschen, um Stabilität entwickeln zu können? Welche Rahmenbedingungen sind notwendig, um den Erwerb dieser Fähigkeiten zu ermöglichen?
Im Kontext der Sexualität lautet die Fragestellung: Welche Fähigkeiten müssen Menschen im Kindesalter entwickeln, um als Erwachsene eine respektvolle, stabile, eigenverantwortliche und zufriedenstellende Sexualität leben zu können?
Schon diese Fragestellung macht den polarisierenden Diskurs zwischen Tabuisierung und Beachtung des Sexuellen obsolet. Es geht weder um das eine, noch um das andere. Es geht darum, welche “Ausstattung” auf körperlicher, emotionaler, sozialer und kognitiver Ebene Menschen brauchen, um eine stabile erwachsene Sexualität entwickeln zu können. Mit Sicherheit braucht es unter anderem die Unterstützung der Kinder bei der Entwicklung einer differenzierten, emotionalen und körperlichen Wahrnehmungsfähigkeit, sowie gezielte Bewegungsförderung. Denn auf dieser Basis kann Stabilität erreicht werden. Eltern und nahe Bezugspersonen können diesen Part der Sexualerziehung täglich leisten, indem sie soziale wie auch körperliche Kompetenzen der Kinder fördern.
Sexuelle Entwicklung
Kinder und Jugendliche verbringen viel Zeit in der Schule und zum Teil auch in anderen Institutionen. Sexualpädagogische Gruppenarbeit mit externen Expert*innen ist ein Element innerhalb dieses außerhäuslichen Netzwerks, in dem junge Menschen, neben der Bildung nach Lehrplänen, im Idealfall ganzheitlich und individuell in ihrer Entwicklung unterstützt werden. Zu dieser Entwicklung gehören emotionale, körperliche, soziale und kognitive Kompetenzen. Auch die erwachsene Sexualität basiert auf diesen Fähigkeiten, die ein Leben lang kultiviert werden können. Die Entwicklungsfenster des Menschen sind nie geschlossen, jedoch nur innerhalb bestimmter Lebensphasen besonders weit geöffnet. Die ersten zehn Lebensjahre sind hier zentral. Sie beinhalten sehr viele Lernschritte, die oberflächlich betrachtet wenig mit Sexualität zu tun haben, aber einen sehr großen Einfluss auf die Etablierung einer stabilen, erwachsenen Sexualität haben.
Verschiedene Lernschritte
Der Erwerb emotionaler und sozialer Fähigkeiten stellt ebenso eine wichtige Basis für die erwachsene Sexualität dar, wie das Erlangen eines positiven Zugangs zum eigenen sexuellen Körper. Limitierungen in den Kompetenzen wirken sich auf die Gestaltung der Sexualität ebenso limitierend aus wie erworbene Ablehnung bestimmter Wahrnehmungen oder auch des Körpers. Die Etablierung von Wertschätzung zum Genital und zu verschiedenen Körperbereichen mit all ihren sexuellen und nicht-sexuellen Empfindungen, wie auch die Integration in das eigene Körperschema, sind eine wichtige Voraussetzung um als erwachsene Person eine differenzierte Wahrnehmung haben zu können und differenziert mit Nähe und Distanz umgehen zu können. Denn ein positiver Umgang mit Sexualität ist ausschließlich dann möglich, wenn es einen positiven Zugang zu sich selbst gibt. Dieser entsteht allerdings nicht automatisch, sondern braucht von unterschiedlichen Seiten Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Kompetenzentwicklung.
Sexualität als Thema in der Familie
Aus diesem Grund ist das familiäre bzw. private Umfeld, in dem Kinder erfahren richtig und liebenswert zu sein, mit all ihren (oft ambivalenten) Gefühlen, in dem körperliche oder emotionale Abgrenzung nicht bedrohlich sind und in dem ein respektvoller Umgang mit verschiedenen Körperempfindungen und die Unterstützung einer differenzierten Wahrnehmung des ganzen Körpers stattfindet, zentral für die sexuelle Entwicklung von Kindern. Nicht alle Kinder leben in einem derartigen Umfeld.
Aus diesem Grund haben alle Institutionen die Aufgabe Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine positive Kompetenzentwicklung auch in Hinblick auf die sexuelle Entwicklung möglich machen. Dazu gehören unter anderem die Förderung der sozialen, wie auch der körperlichen Fähigkeiten. Wertevermittlung, soziale Kompetenzen, wie auch der Zugang zum eigenen, sexuellen Körper werden jedoch in erster Linie durch das familiäre Umfeld geprägt.
Kindliche Fragen an Erwachsene
Stellen Kinder konkrete, kognitive Fragen zur Sexualität, kann dies Erwachsene durchaus fordern. Die meisten Kinder stellen diese Frage nicht im familiären Umfeld. Dort sind die Lernfelder der Basisfähigkeiten angesiedelt – je konkreter es um sexuelle Fragestellungen geht, desto eher wird das Thema mit Personen besprochen, die nicht nahestehen. Warum? Weil Beziehung auch Schutz braucht. Auch Kinder wissen, dass Sexualität durchaus ein heikles Thema sein kann, was zu Verwirrung und Irritation führen kann. Aus Rücksicht auf eine gute familiäre Beziehung werden daher meist nur jene Themen gezeigt, die das Kind als passend in diesem Kontext erlebt. Der Umkehrschluss, dass das Kind bestimmte Fragen nicht stellt, weil es kein Interesse daran hat, wäre allerdings falsch. Denn jede erwachsene Person, die Kinder begleitet, hat eine andere Aufgabe in der Förderung der Entwicklung.
Abgrenzung als Entwicklungsaufgabe
Am Weg zum Erwachsenwerden ist der Ablösungsprozess von Eltern und nahen erwachsenen Bezugspersonen eine der Entwicklungsaufgaben. Mit Eintritt in die Schule beginnen Kinder Fragen im Kontext Sexualität differenziert zu betrachten. Auch oder gerade wenn das familiäre Umfeld vertrauensvoll und sicher ist, werden Fragen nicht mehr einfach gestellt, sobald sie in den Sinn kommen. Vielmehr wägen Kinder ab, welche Frage an welchem Ort gestellt werden darf, ohne eine unangenehme Situation zu forcieren. Eltern rücken als Ansprechpartner*innen für besonders intime, sexuelle Themen immer weiter aus dem Fokus, Kinder brauchen zwar weiterhin emotionale Unterstützung, holen sich Informationen über Sexualtät aber immer häufiger aus verschiedenen anderen Quellen, wie diversen Medien und von Gleichaltrigen. Fragen zum Thema Beziehung werden hingegen lieber mit nahestehenden Bezugspersonen besprochen.
Viele Kinder zeigen sich uninteressiert und unwissend und machen sich gleichzeitig viele Gedanken über erwachsene Sexualität, die genauso geheimnisumwittert scheint, wie sie einen Teil diverser Mythen und Spekulationen darstellt. In einer Peer-Group, wie z.B. in Schulklassen, verbreiten sich einschlägige Inhalte sehr schnell. In diesem Sinn ist es wichtig, sinnvolle Informationsmöglichkeiten anzubieten und den häufig wenig brauchbaren Quellen differenzierte und altersgerechte Inputs gegenüberzustellen, damit individuell jene angenommen werden können, die gerade gebraucht werden.
Keine Informationen anzubieten würde bedeuten, die Kinder Fehlinformationen auszusetzen und damit Irritation zu fördern. Klarstellung schafft hier auch eine Möglichkeit der inneren Ordnung.
Sexualpädagogik im Schulworkshop
Da Sexualpädagog*innen als externe Fachpersonen in keiner Verbindung zu den Kindern stehen, kann aus kindlicher Sicht keine Gefahr bestehen eine Beziehung zu gefährden, indem etwas Peinliches oder vermeintlich Ungehöriges thematisiert wird. Kinder, die über weite Strecken völlig desinteressiert am Thema erscheinen, beginnen in Workshop-Situationen häufig ihre Gedanken, Fragen und Vorstellungen auszusprechen. Eine wichtige Voraussetzung, um so manche Missverständnisse zu klären. Manchmal geht es auch darum zu entlasten und immer geht es darum die Kinder in der eigenen Wahrnehmung zu stärken, in Abgrenzung zu all jenen Dingen, die sie über Sexualität medial erfahren können.
Und wenn etwas “zu viel” ist? Kinder haben meist sehr gute Mechanismen etabliert, wie sie mit Themen umgehen möchten, die sie gerade nicht interessieren. Wird etwas besprochen, das für das Kind unpassend ist, wird es vermutlich anfangen, etwas anderes zu tun, Musik zu hören oder zu zeichnen. All das sind erlaubte und sinnvolle Möglichkeiten. Eltern, die die Sorge haben, dass ihr Kind in einem sexualpädagogischen Workshop durch bestimmte Themen überfordert wird, müssen immer bedenken, dass in der Gruppensituation ausschließlich Themen besprochen werden, die von den Kindern genannt werden. Es sind also genau jene Themen, mit denen die Kinder sonst allein gelassen werden. Sexualpädagogik findet zielgruppenorientiert statt. Dies bedeutet, dass die Fragen und Themen der Kinder aufgenommen werden – nicht aber, dass Themen hineingetragen werden. Wird nach diesem Prinzip gearbeitet, werden immer jene Fragestellungen bearbeitet, die die Gruppe auch in den Pausen bewegt, die Klarheit brauchen und die unbearbeitet zu Verwirrung führen können.
Sexualpädagogik als ergänzende Begleitung
Das, was in der Pause besprochen wird, die Themen, die in den Kinderköpfen herumschwirren, entsprechen dabei meist nicht dem, was sich Eltern erwarten. Das ist auch völlig natürlich. Zum einen zeigen sich die eigenen Kinder zu Hause nicht in dieser Weise, zum anderen müssen auch Erwachsene die Grenze zwischen der kindlichen und der erwachsenen Sexualität einhalten. Passiert dies, so wird automatisch alles, was in Bezug auf das Kind “sexuell” sein könnte sofort abstrahiert – um nicht zu sagen neutralisiert. Das eigene Kind als nicht-sexuell wahrzunehmen ist eine sehr natürliche Herangehensweise, die auch eine Schutzfunktion hat, um Grenzen einzuhalten. Sie ist allerdings dann hinderlich, wenn der notwendige Kompetenzerwerb auf kognitiver Ebene verhindert wird, indem letztendlich allen anderen Erwachsenen dieselbe Position zugeschrieben wird. Eltern haben bestimmte Aufgaben im Bereich der Sexualerziehung. Die Grenze in der Begleitung der Kinder zu sexuellen Fragestellungen beginnt immer dort und dann, wenn eine von beiden Seiten sich peinlich berührt fühlen würde.
Professionelle Sexualpädagogik kann und soll elterliche Sexualerziehung nicht ersetzen, oder familiäre Wertevermittlung außer Kraft setzen. Die liebevolle und respektvolle Begleitung der kindlichen sexuellen Entwicklung durch Eltern und Bezugspersonen ist die zentrale Ressource junger Menschen.
Salutogenese als Basis von Sexualpädagogik
Für Kinder sind weder die eigenen kindlichen sexuellen Empfindungen noch die fremde Welt der Erwachsenensexualität per se mit Bewertungen verbunden, auch wenn letztere ein unverständliches Mysterium sein kann. Mit zunehmendem Alter lernen Kinder erwachsene und kulturelle Bewertungen kennen und verhalten sich dementsprechend. Je jünger Kinder sind, desto offener sprechen sie ihre Gedanken und Themen rund um die (erwachsene) Sexualität an, je mehr an kultureller Lernerfahrung da ist, desto mehr werden Fragen und Themen “codiert”. Die Fragestellung entspricht dann dem, was als gesellschaftlich erwartet gesehen wird – die eigentliche Emotionalität wird aber versteckt.
Professionelle Antworten der Sexualpädagogik folgen einer salutogenen Grundhaltung: Die Wertschätzung sich selbst gegenüber ist Voraussetzung für die Bereitschaft sich selbst zu schützen. Ein kompetenter Umgang mit sich selbst ist Voraussetzung für einen kompetenten Umgang mit anderen. Sexualpädagogik ist ein wesentlicher Bestandteil der Gesundheitsförderung. Getragen von dieser Haltung integrieren Antworten auf Fragen innerhalb eines Workshops neben Fakteninformationen aus Biologie und Medizin immer auch die individuelle Ebene der Wahrnehmung und Körperlichkeit. Auch das Thema Grenzen kann auf dieser Basis besprochen werden. Sexualpädagogik ist niemals Aufforderung zu sexuellen Handlungen, sondern stellt einen Input zur Auseinandersetzung dar in Verbindung mit Wissensvermittlung. All dies geschieht in einer Haltung absoluten Respekts. Unterschiedliche Werthaltungen der Kinder/Jugendlichen sollen und können Platz finden. Sexualpädagogik unterstützt dabei den respektvollen Dialog zwischen unterschiedlichen Wertezugängen.
Sexualität ist für viele Menschen ein emotionales Thema, verbunden mit einer ganz persönlichen Kompetenz, die sich aus der eigenen Entwicklung, Erfahrungen, Gefühlen und Empfindungen, Wissen, Überzeugungen und Werthaltungen zusammensetzt. Der Wunsch, den viele Eltern und Bezugspersonen für die eigenen oder nahestehenden Kinder hegen, ist, dass sie zu selbstbewussten, eigenverantwortlichen, beziehungs- und genussfähigen Menschen heranwachsen, die wertschätzend mit sich und anderen umgehen.
Unterschiedliche Aufgabenfelder
Professionelle Sexualpädagogik darf nicht von persönlichen Meinungen, Werthaltungen oder Ideologien getragen werden, sondern orientiert sich an fächerübergreifenden wissenschaftlichen Grundlagen und arbeitet ressourcenorientiert mit den Möglichkeiten und Interessen der Zielgruppe. Sexualpädagog*innen setzten gebündeltes Wissen ein, um allen Fragen und Anliegen junger Menschen inhaltlich fundiert zu begegnen, jeder Input, jede Beantwortung von Fragen, jede Methode ist fachlich argumentierbar, basierend auf einer respektvollen Haltung, in Einklang mit den Menschenrechten, sowie den Inhalten des Sexualerziehungserlasses des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung.
Professionelle Sexualpädagogik stellt keine persönlichen Fragen, prüft nicht ab und bewertet nicht. Positionierungen werden ausschließlich beim Thema Gewalt vorgenommen. Professionelle Sexualpädagogik macht kein Kondomtraining in Volksschulen und regt Schüler*innen weder zu eigener, noch zu gegenseitiger Berührung an.
Die Vermittlung differenzierter, vielschichtiger und altersgerechter Informationen zum Thema Sexualität braucht interdisziplinäre Kompetenzen, damit vereint professionelle Sexualpädagogik biologisches, medizinisches, sexualwissenschaftliches, psychologisches, gruppendynamisches, pädagogisches, medienkundliches, didaktisches und methodisches Fachwissen innerhalb eines Berufsbildes.